Veilchen verpassen

Tennis Borussia, die Boxabteilung & der Deutsche Meister im Mittelgewicht und Halbschwergewicht Erich „Ete“ Seelig

1924 – es knirscht gewaltig im Getriebe des Sportclub Charlottenburg (SCC).

Die im Sommer 1920 gegründete Boxabteilung entwickelt sich prächtig. Harry Stein hält zwei Jahre lang den deutschen Amateurtitel im Fliegengewicht (1922 & 1923), bevor er erfolgreich ins Profilager wechselt. Der Erfolg der Charlottenburger beschert den Boxern einen Ansturm auf die Abteilung. Die Trainingshalle befand sich in der Rosinenstraße zu Charlottenburg. Sie war ein vortrefflicher Boden, jeder Tag brachte uns neue Mitglieder, und es herrschte zeitweise ein beängstigender Betrieb. Innerhalb kürzester Zeit avanciert die Boxabteilung des SCC zum kampfstärksten Boxverein in Berlin nächst dem SC Heros 03.

Doch trotz solcher Erfolge schauen nicht wenige Vereinsfreunde auf die Boxer herab, denn, so notiert es der Boxer und Sportjournalist Alfred Eggert, wir begegneten oft mitleidigen Blicken der Klubkameraden von der anderen „Fakultät“, die anscheinend unsere Zurechnungsfähigkeit anzweifelten. Es herrscht die Vorstellung vor, dass Boxabteilungen nicht in allgemeine Sportvereine zu integrieren seien. Ablehnung und Unverständnis im Gesamtverein sorgen für schwierigste Verhältnisse, denen sich die Boxpioniere des SCC mit entschlossenem Wagemut stellen.

1924 erfolgt der Zusammenbruch der Abteilung, als ein Großteil der Leistungsträger, darunter Stein, Peter, Eggert, Grix, Ehrenberg, in dem Jüdischen Box-Club (JBC) „Makkabi“ eine neue sportliche Heimat finden.

Illustration: Album Nestlé. Sports — Contes — Explorations. Série No. 14. Boxe. Timbre No. 12. Erich Seelig. Quelle: Sammlung Buschbom.

Nach dem Aderlass sind die beim SCC verbliebenen Boxer auch sportlich angezählt. In dieser Situation kommt ein unwiderstehliches Angebot von TeBe-Gründungsmitglied Alfred Lesser. Exzellenz hat sich entschlossen, 8 große Räume, die sich an sein Büro anschließen, in eine große komfortabel eingerichtete Box-Trainingshalle umzuwandeln. Die Decken der darüber liegenden Wohnung wurden entfernt, so dass ein architektonisch circensischer Charakter erzielt wird. Der Kampfraum wird 2000 Sitzplätze bieten … Als Manager für das Unternehmen wirkt Sabri Mahir, der gleichzeitig auch die technische Trainingsleitung in Händen hat. Lesser selbst wird sich zum Professional ausbilden und hofft nach 3 Monaten ernsten Trainings für den ersten Kampf fit zu sein.Die einzige Bedingung, die Lesser stellt: Die Boxabteilung des SCC soll unter dem Dach der Tennis Borussia fortgeführt werden. Und so kommt es, dass sich nach der offiziellen Gründung der Boxabteilung im März 1925 eine wahre Flut an Mitgliedsanträgen in die Geschäftsstelle ergießt. Allein im Mai 1925 begrüßen die Veilchen 51 neue Mitglieder in der soeben erst gegründeten Boxabteilung. Darunter die Brüder Josef, Heinz und Erich Seelig, wohnhaft in der Cöpenicker Straße 48, Berlin SO 16.

Erich ist kein Boxer, und am wenigsten glaubt er selbst daran. Er ist ein verweichlichtes und verwöhntes Kind, wie er Jahre später dem Magazin Boxsport verrät, außerdem „petzte“ er sofort jeden Streich und jede Uebeltat seiner drei Brüder. Kam es einmal zu einer Keilerei unter den Brüdern, konnte man wetten, dass Erich Seelig als erster heulend den Kampfplatz verließ.

Die Seeligs waren 1918 aus Danzig nach Berlin übersiedelt, Heinrich, der älteste Bruder, ist Getreidehändler. Einmal gerät er am Schlesischen Bahnhof mit zwei handfesten Rollkutschern aneinander und bezieht Senge. Das darf nicht passieren! Heinrich beschließt, Mitglied der Boxabteilung des SCC zu werden. Da wollen die jüngeren Brüder, Josef und Erich, nicht hintanstehen. Doch Erich hat sein boxerisches Aha-Erlebnis erst bei den Veilchen.

Erich konnte sich immer noch nicht mit dem Boxen anfreunden, bis er eines Tages sein Herz entdeckte. In einem Trainingskampf mit Walter Peter machte Erich Seelig zuerst keine gute Figur. Dann aber ließ Peter den jungen Seelig sich austoben. Von diesem Trainingskampf an war Erich Seelig wie verwandelt. Er hatte plötzlich Interesse und Lust bekommen, nicht nur das Boxen, sondern auch das Kämpfen gefiel ihm.

Der 14-Jährige ist ein ganz eigenartiger Kämpfertyp. Er ist schnell, wie man dies noch nie bei einem deutschen Boxer seiner Klasse sah. Blitzschnell erfasst er die Situation, weicht aus, er wird fast nie im Kampf getroffen. Erich erobert alsbald sämtliche lila-weißen Herzen:

Seelig, – na, der Junge ist ein Kapitel für sich. Wir können uns freuen, dass wir ihn haben, denn er ist bereits erste Klasse und gehört zu denen, die den Marschallstab im Tornister tragen.

Aber bei Tennis Borussia ist man zu sehr der Jugend verpflichtet, um solches Lob uneingeschränkt auszusprechen, und dass dem mittlerweile 16-Jährigen nicht der Kamm schwelle, fährt Eggert fort, aber: das Bittere ist die Kehrseite der Medaille. Dieser hochveranlagte Boxer, der bei sachgemäßer Anleitung alles erreichen könnte, erfüllt uns Führer mit tiefer Bitternis. Er lässt sich nicht leiten und legt sich in seinem Training keine Hemmungen auf. Mit riesigem Kräfteverbrauch bereitet er sich vor, hält sich in Form und ruft in uns die Befürchtung wach, dass er sich vorzeitig aufzehrt. Das ist die größte Gefahr bei diesen jugendlichen, noch in stärkstem Wachstum befindlichen Körpern, Uebereifer und Maßlosigkeit im Training.

Die Zuckerbrot-und-Peitschen-Pädagogik scheint bei Erich Seelig auf fruchtbaren Boden zu fallen. Denn als Hans Rieke nur wenige Monate später die größte Dummheit seines Lebens begeht und TeBe verlässt, um Profi zu werden, springt Seelig in die Bresche.

Den Deutschen Weltergewichtsmeister Rieke 1925 aus Hamburg zu den Veilchen gelotst zu haben, war ein weiterer Coup von Exzellenz Lesser. Er hatte ein Team sportlich komplettiert, das vielleicht nicht aus Killern bestand, wie es in der Festschrift zum 25. Vereinsjubiläum heißt, aber es sind doch alles harte, und vor allem durchweg intelligente Jungen, die es verstehen, ihr Hirn beim Kampf zu benutzen, die, wie es im Jargon heißt, „mit dem Kopf boxen“. Rieke war einer, der den jungen Veilchen mit Boxhandschuhen zum Vorbild wurde – er war der Leistungsträger in der lila-weißen Boxmannschaft.

Im September 1927 boxt die Staffel der Veilchen um die Mannschaftsmeisterschaft des Brandenburgischen Box-Verbandes, und da fehlt einer wie Hans Rieke:

Er war immerhin unser bester Mann und er wird uns, wo wir uns gerade jetzt mit großen Projekten tragen, fehlen. Aber das müssen wir vergessen.

Seelig ist in die Bresche gesprungen, und er wird jetzt erst einmal unter den Berliner Weltergewichtlern etwas aufräumen.

Tatsächlich ist es der 17-Jährige, der am 14. September gegen Teutonia in den Germaniasälen in der Chausseestraße den einzigen Sieg erboxt.

Es überhaupt in die Endrunde um die Berliner Meisterschaft geschafft zu haben, ist  ein unglaublicher Erfolg. Und solche Auftritte tragen dazu bei, dass die lila-weiße Boxabteilung nur zwei Jahre nach ihrer Gründung boomt.

Im Boxen haben wir einen Aufstieg zu verzeichnen, der dem der Fußballabteilung gleicht. Die Kämpfe unserer Boxer finden heute Tausende von Zuschauern, wir stellten Meister und haben eine zielbewußte Boxleitung, die aus eigener Kraft guten Nachwuchs herausbringt.

Großen Anteil hat Alfred Lesser. Exzellenz verpflichtet bekannte Trainer, und er ist es, der es als Pressewart des Boxverbandes (BBV) durchsetzt, dass allabendlich die Boxresultate durch Rundfunk veröffentlicht werden. Vor allem aber boxt sich der junge Erich Seelig mit seinem unvergleichlichen Stil in die Herzen der Sportbegeisterten. Ein französischer Sportreporter notiert begeistert:

Erich Seelig ist im Ring ein außerordentlich gefährlicher Mann. Zunächst natürlich, weil er anzugreifen weiß, und seine Angriffe sind wirkungsvoll. Dann aber auch, weil er abzuwarten versteht. Selten sah man einen Boxer, der sich so sehr darauf versteht, seinen Gegner in die Falle zu locken. Nach einem dieser Blitzangriffe, die sein ganzes Geheimnis sind, richtete er sich aufs Vorzüglichste darin ein, seinen Gegner zu Reaktionen zu provozieren und ihn dann im Gegenschlag als Fallobst zu ernten, wie man nun zweifellos weiß.

Die boxenden Veilchen sind keine Eintagsfliege. Die Abteilung erringt dreimal in Folge die Berlin-Brandenburgische Mannschaftsmeisterschaft: 1929, 1930 und 1931. Im Mittelgewicht kann Seelig 1929 die Brandenburgische Meisterschaft für sich gewinnen und qualifiziert sich für die Deutsche Meisterschaft, wo er in der Endrunde gegen Skibinski (Bochum) den besten Kampf seiner Laufbahn bestreitet und boxt, wie man es noch nie vorher von ihm sah.

Wir erwarteten also unseren Ette als Deutschen Meister, aber die Richter entschieden anders. … Trotzdem er von den Richtern besiegt wurde, gratulieren wir ihm…

Anfang 1931 entscheidet sich Erich zu einem schweren Schritt: „Ete“ Seelig Berufsboxer!, melden die Club-Nachrichten.

Ehrgeiz, Mut, Energie waren im besonderen die Kennzeichen, mit denen er viele Borussen und Boxinteressierte begeisterte … Er hat einen erheblichen Anteil daran, dass der Name „Tennis-Borussia“ auch im Boxsport einen guten Klang hat. Das werden wir ihm nicht vergessen! Dazu ist uns Ete in seiner treuen, frohen Art ein guter, überall gern gesehener Kamerad gewesen! So wird uns der Abschied von ihm in doppelter Hinsicht schwer. Unsere besten Wünsche geleiten Dich, lieber Ete, auf dem Wege in die für Dich neue Welt. Möge sie Dir Erfolg und Freude bringen – da würde auch uns Freude vermitteln!

In den folgenden Jahren blickt man allerorten in selige Veilchengesichter, kommt die Sprache auf Ete Seelig. Denn Erich startet eine Bilderbuchkarriere als Profiboxer. Binnen eines Jahres boxt er sich zum Deutschen Meistertitel in gleich zwei Gewichtsklassen! Am 12. November 1931 gegen Hans Seifried im Mittelgewicht und am 26. Februar 1933 gegen Helmut Hartkopp im Halbschwergewicht. Den Titel im Halbschwergewicht verteidigt er am 26. Februar 1933 gegen Helmut Hartkopp.

Dann 1933. Am 31. Januar ernennt Präsident von Hindenburg den Reichskanzler Hitler. Als die Nazis sich daranmachen, ihre Macht auszubauen, ist Seelig amtierender Meister in beiden Klassen. Am 3. April  schließt der Verband, der Verein deutscher Faustkämpfer, die jüdische Mitgliedschaft aus dem Verband aus, kurz darauf sprechen die Nazis Erich beide Meistertitel ab. Sollte er es wagen, für die Titelverteidigung im Halbschwergewicht, die unmittelbar bevorsteht, in den Ring zu steigen, wird er sein Leben riskieren, drohen die Nazis. Am Abend jenes 11. April, an dem das Verbandsmagazin Box-Sport die Aberkennung der Titel Erich Seeligs offiziell vermeldet, erklärt ein Teil der jüdischen Mitgliedschaft des Berliner Tennis-Club „Borussia“ auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung seinen Vereinsaustritt.

Zusammen mit seinem Bruder Heinz flieht Erich Seelig nach Paris, doch Ete wirft das Handtuch nicht.  Kurz nach seiner Ankunft klettert er in den Ring, um am 23. Mai dem amtierenden Weltmeister im Mittelgewicht, Marcel Thil, gegenüberzutreten. Mancher Franzose reibt sich verwundert die Augen: Eric, wer? Der Deutsche gilt als krasser Außenseiter, aber Ete schlägt sich trotz mangelhafter Vorbereitung wacker:

Wir haben (ohne ihn zu kennen) schon vor der Ankunft Seeligs gesagt, der in Paris Zuflucht sucht, dass der Sachverhalt, ihm die beiden deutschen Meistertitel im Mittelgewicht und Halbschwergewicht abzusprechen, zu Seeligs Gunsten spricht. Gegen Marcel Thil kämpfte Seelig, der sich noch nicht akklimatisiert hatte, keinen außergewöhnlichen Kampf, aber er hatte trotzdem genügend Muße, uns seine Qualitäten zu zeigen: Tempo, Feuer und Mut. … Erich Seelig hat den Punch.

Dieser und die folgenden Kämpfe im französischen Exil sind wohl die wichtigsten Auftritte seines Lebens. Gegen Thil verliert Seelig höchst achtbar, danach zeigt er sich in fünf gewonnen Fights auf Augenhöhe mit der europäischen Boxelite. Es sind diese Kämpfe, mit denen Ete Seelig den Nazis daheim ein Veilchen verpasst. Denn sein Mut, sein Durchhaltevermögen, seine Intelligenz im Kampf sowie seine Nehmer- und Geberqualitäten lassen ihm die Herzen zufliegen und sorgen für internationale Solidarität. Die große französische Sportillustrierte match berichtet:

Die Freude der Seelig-Freunde, die so zahlreich in der Halle sind, unbändig, tobend. Aber man versteht sie. Diese tapferen Leute werden, seien Sie  davon überzeugt, noch viele weitere Gelegenheiten haben, sich zu erheitern.

The Ring Magazine, Juni 1933. Quelle: Boxing Records, boxrec.com

Den 8. Juni 1933 tragen sich Boxfreunde auf der ganzen Welt rot in ihre Kalender ein. Auf dem Programm steht ein Kampf in der Königsklasse des Boxens, dem Schwergewicht. Der Kalifornier Max Baer gegen den Deutschen Max Schmeling, der sich den martialischen Kampfnamen „der schwarze Ulan“ zugelegt hat. Schmeling reist mit besonderem Auftrag Hitlers in die USA. Vielleicht fragt man sie drüben, wie es in Deutschland aussieht, hatte der Reichskanzler Schmeling mit auf dem Weg gegeben. Dann können sie ja die Schwarzseher beruhigen, wie friedlich hier alles ist und dass alles vorangeht. In der Juni-Ausgabe des The Ring Magazine zürnt der Gründer und Herausgeber des weltweit einflussreichsten Boxmagazins, Nat Fleischer, über den Fall Seelig. Das Hitler-Regime nennt er grässlich, den Ausschluss der jüdischen Boxer aus dem Verband bigott und verkommen:

Der Deutsche Boxverband erschütterte die gesamte Boxwelt mit seinem Bann gegen Seelig, der der nationale Titelhalter im Leichtgewicht [sic!] und Mittelgewicht ist, und erklärte seine Titel als vakant, weil er Jude ist. Seelig ist in Deutschland geboren und erlangte für sein Vaterland Ring-Ehren, und trotzdem wurde er seiner Titel enthoben, einfach weil er jüdischen Glaubens ist.

Zur Überraschung aller steigt Baer mit einem Davidstern auf den Hosen in den Ring. Er selbst ist Katholik, sein Vater Jude. Ich habe den Davidstern getragen, weil ich dachte, es ist das Richtige. In einer furiosen zehnten Runde schlägt Baer Schmeling k. o. That one‘s for Hitler!, ruft „Madcap Maxie “ (so der Kampfname des Kaliforniers), als der schwarze Ulan auf die Bretter geht.

Berlin, einen Tag nach dem Schmeling-Desaster. In der Kreuzberger Bockbrauerei treten am Abend des 9. Juni Adolf Witt und Johann Wilhelm Trollmann an. Dem Gewinner winkt Erich Seeligs Meistertitel im Halbschwergewicht. Noch sind die Nazis sich uneins, wie man einen rassisch zu bewerten hat, der in ihren Augen und in ihrer Sprache ein Zigeuner ist. Gypsy, wie er genannt wird, wehrt sich früh gegen seine Zwangseingemeinschaftung in ein ethnisches Kollektiv. Trollmann ist über die  Bezeichnung „Zigeuner“ ehrlich empört, berichtet das Magazin Fußball bereits 1932, und bittet dringend, ihn nicht mehr so zu nennen. Gypsy gehe gerade noch an, aber auch nur deshalb, weil die Deutschen mit der anglisierten Form von „Zigeuner“ in ihrer Mehrheit nichts anzufangen wüssten.

Er verzichtet von Herzen gern auf die Propagandamöglichkeiten, die die Wut, die ihn jedesmal bei der „Verschimpfierung“ [sic!] seines Namens packt, nicht wettmachen können.

Über eines sind sich die Nazis einig: Der Trollmann, dieser Zigeuner, wird für den Arier Witt nur Fallobst sein.

Rukeli Trollmann, wie er von Freunden genannt wird, verfügt über eine außergewöhnliche Boxtechnik, ist wie Seelig einer dieser Boxer mit Köpfchen. Wie besiegt David den Goliath? Rukeli umtänzelt Adolf, weicht aus, lauert auf seine Chance und landet Treffer um Treffer. Witt ist nach dem Kampf bis auf die Knochen blamiert. Doch da schreitet der Verbandsoffizielle ein, erklärt den Kampf für ungültig. Ungläubiges Schweigen im Publikum, bevor der Sturm losbricht. Toben, Schreien, Wüten. Dem betrogenen Sieger steigen Tränen in die Augen. Schließlich – um das zum Äußersten entschlossene Publikum zu beruhigen – bekommt Rukeli den Titel doch noch zuerkannt. Für vier Tage. Dann erhält er ein Schreiben des Verbandes, ein deutscher Boxer darf nicht weinen, erst recht nicht ein Meister in aller Öffentlichkeit heulen, heißt es darin.*

Johann Wilhelm Trollmann wird 1944 im KZ-Außenlager Wittenberge erschlagen werden, weil er in einem jener Schaukämpfe, mit denen sich die Wachleute die Zeit vertreiben, nicht freiwillig zu Boden geht.

Beide, Trollmann und Seelig, waren um den Titel im Halbschwergewicht betrogen worden. Der Kampf gegen die Nazis treibt Ete Seelig an.

Seelig emigriert über Kuba in die USA und setzt seine Karriere mit einem Ausrufezeichen fort. Anfang Dezember 1935 trifft er auf den ehemaligen Mittel- und Weltergewichtsweltmeister Mickey Walker. Als einer der mutigsten und härtesten Boxer seiner Generation erfreut sich der 34-Jährige außerordentlicher Popularität. Seelig strafte Walker in jeder Runde ab. In der sechsten Runde schlug er ihm eine böse Wunde über dem linken Auge, die in der siebten in einem solchen Zustand war, dass Ringrichter Johnny McAvoy sich genötigt sah einzugreifen, um den ehemaligen Titelhalter vor einer schweren Verletzung zu bewahren. … Das unerschütterliche Herz eines Kämpfers und eine Welt von Mut waren alles, was Walker geblieben war. Stoisch nahm er hin, was Seelig ihm entgegenwarf, und stellte sich ihm immer wieder entgegen. So beendet Seelig die Karriere eines großen Sportlers.

Bald rückt Ete auf Nummer sieben der Mittelgewichtler in den Klassements des Ring Magazine vor und nutzt die damit verbundene Popularität des Spitzensportlers.

New York, einen Tag nach dem Walker-Seelig-Kampf. Vor einem Auditorium von 2.500 Personen sitzen im piekfeinen Mecca Temple der Gouverneur von Pennsylvania, George H. Earle, der Bürgermeister von New York, Fiorello Henry LaGuardia, Alfred J. Lill vom Amerikanischen Olympischen Komitee und ein Veilchen aus Berlin. Das Komitee für Fair Play im Sport diskutiert über einen Boykott der Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Ete Seelig sitzt stellvertretend für alle auf dem Podium, die unter der Nazi-Sport-Politik und antisemitischer Diskriminierung zu leiden haben. Es werden Stellungnahmen von fünf Gouverneuren und sechs Senatoren verlesen, die sich für einen amerikanischen Rückzug von den Olympischen Spielen aussprechen, drei weitere Senatoren und ein Gouverneur geben ihrer Sympathie für das Anliegen Ausdruck. Mit Grußadressen melden sich aus Belgien Maurice Blitz, Mitglied der Nationalmannschaft im Wasserball (olympisches Silber 1920 & 1924), und der belgische Fechtmeister Leon Tom. Die Versammlung erreichen Grußadressen des Internationalen und des Pariser Fair Play Komitee. Gouverneur Earle, der sich während der Depressionszeit vom beinharten Republikaner zum Parteigänger Roosevelts gewandelt hatte, hält eine mitreißende Rede:

Wenn ihr wollt, dass eure Kinder nach dem Recht des Stärkeren erzogen werden, dass sie lernen, dass Frauen von niedrigerer Natur als Männer sind, dass freie Rede und religiöse Freiheit falsche Ideale sind, dass Frieden Schwäche ist, dass Freiheit, wie wir sie in Amerika lieben gelernt haben, ein Mythos ist – wenn ihr all diese Lehren der amerikanischen Jugend indoktriniert sehen wollt, dann schickt eure Jungs und Mädchen nach Deutschland.

Am Vorabend hatte Erich Seelig einen amerikanischen Helden besiegt. Nun sitzt er, der lila-weiße Stepke aus der Köpenicker Straße, inmitten dieser feinen Gesellschaft und leiht sein Gesicht, noch zerschunden vom Kampf, der amerikanischen Anti-Nazi-Bewegung. Es ist dieses Gesicht, das den Nazis zu Hause in die Propagandasuppe spuckt. Die Veilchen des Erich Seelig trüben das Bild vom friedliebenden nationalsozialistischen Deutschland, das die Olympischen Spiele von 1936 liefern sollen.

Erich „Ete“ Seelig bleibt seinem Heimatverein bis zu seinem Tod am 19. Januar 1984 eng verbunden.

6. Oktober 1933: Erich Seelig gegen Jack Etienne. Ete drängt den Löwen von Flandern in die Seile.
Foto: Match, Nr. 370, 1933; Sammlung Buschbom.

Alle Zitate aus der zeitgenössischen Vereins-, Fach & Tagespresse mit Ausnahme von:
*Zitiert nach: Martin Krauß: Trollmanns aussichtsloser Kampf. Auf: http://www.kreuzberger-chronik.de/chroniken/2002/april/geschichte.html

 

Ein herzliches Dankeschön an unsere Leserin Stephanie Bart für ihre Hinweise und an Stefanie Barthold fürs Lektorat!